48. Bremer Förderpreis für Bildende Kunst
Stätische Galerie Bremen
Ingmar Lähnemann
Yoriko Seto beschäftigt sich in Zeichnungen, die in ihrem Künstlerbuch 49 days zusammengefasst sind und zusätzlich als Drucke auf der Wand gezeigt werden, in dem kurzen Animationsfilm Spheres und in einer alles verbindenden Wand-zeichnung mit Erinnerungen. Mit eigenen Erinnerungen und mit Erinnerungen als zentrale menschliche Erfahrung. Im Schwarzweiß von Bleistift und Kohle auf Papier und Wand schafft Yoriko Seto überwiegend figürliche Bilder, die Alltags-szenen und -objekte zeigen. Insbesondere an den Gegenständen wird schnell er-sichtlich, wie sie mit Erinnerungen und entsprechenden Emotionen verbunden werden (können). Manche Motive wiederholen sich, tauchen in den Blättern, im Film und auf der Wand mehrfach auf. So zum Beispiel die Hände, die einfachste Handlungen ausführen und gerade in der Wandzeichnung auch wie die Hände der Künstlerin wirken, die hier die zeichnerische Arbeit ausgeführt haben.
Überhaupt ist es naheliegend, die Erinnerungen als eine persönliche Beschäftigung von Yoriko Seto mit ihrer eigenen Vergangenheit bzw. der ihrer Familie zu lesen. Deutlich sind Verweise auf die japanische Kultur und auf eine künstlerische Tätigkeit. Bestimmte Gegenstände vermitteln außerdem, dass sie sich in der Wandzeichnung zu den bisherigen Erinnerungen nun explizit auf Gedanken an ihre verstorbene Großmutter bezieht.
Gerade im Film werden die offensichtlich persönlichen Erinnerungen aber zu Chiffren allgemeingültiger Bilder für typische Erinnerungsmomente. Die gezeichneten Blätter, die einmal in einer eindeutigen Reihenfolge im Künstlerbuch gefasst und dann auf der Wand in ganz anderer Ordnung verteilt werden, sprechen außerdem dafür, dass Erinnerungen sich andauernd verändern, dass selbst geteilte Erinnerungen nicht übereinstimmen, dass Menschen und Dinge durch Erinnerungen zwar bleiben und bewahrt werden, sich aber umso deutlicher nicht mehr fassen lassen. Damit dienen die verschiedenen visuellen Trigger als Erinne-rungsauslöser für das Publikum, das installativ in das künstlerische Setting integriert wird. Das Künstlerbuch müssen wir zur Betrachtung einer weißen Halbkugel entnehmen, in einer weiteren Hälfte einer Kugel können wir den Film nur durch drei Gucklöcher betrachten. Die insektennestmäßigen, augapfelartigen Gehäuse bilden eigene Bildräume im Gesamtkunstwerk und führen bei der Betrachtung des Animationsfilms dazu, dass wir die immer eingeschränkte Perspektive fast automatisch als eine rezeptive Übertragung des fragmentarischen Charakters von Erinnerungen erfahren.
Wichtig für die Stimmung der zeichnerischen Setzungen ist auch die Klangebene des Animationsfilms. Relativ monton und langsam angeschlagene Gitarrensaiten erzeugen eine meditative, ruhige, vielleicht auch etwas melancholische Grundierung der Bilder. Die Musik strahlt aus der Halbkuppel des Films auf die gesamte Wandzeichnung und auch weit darüber hinaus in den Ausstellungsraum, während man die weiteren Klänge - Vogelgezwitscher, Mundgeräusche, Kratzen, etc. - erst wirklich wahrnimmt, wenn man dicht vor dem weißen Gehäuse des Films steht. Es entsteht eine Sogwirkung, ein Aus- und Einsteigen in die Bildwel-ten, die sich ähnlich in den mehrfach verwischten und neu gesetzten Konturen der Wandzeichnung und der Verteilung der Drucke auf der Wand finden. Verbin-dungen, die sich über Linien und Bildinhalte ergeben, lösen sich im gleichen Moment und vermitteln auch hier, wie emotional wichtig und gleichzeitig latent unbefriedigend Erinnerungen sind.
zip Meisterschüler:innen der HfK 2024
Auf mentaler Zeitreise
Lea Woltermann
Nach dem Tod ihrer Großmutter zeichnete Voriko Seto mit einem Kohlestift Bilder von Erinnerungen. Jeden Tag eine Seite, 49 Tage lang. So lange, wie im Rahmen einer japanischen Feuerbestattung die Knochenreste einer verstorbenen Person bei der Familie verbleiben, bevor sie beigesetzt werden. Diese Zeichnungen wurden in einem Künstlerbuch mit dem Titel »49 days« zusammengefasst. Dafür scannte Seto sie ein, komprimierte sie zu Bitmaps, druckte sie aus und kopierte sie schließlich wieder und wieder. Mit jeder Kopie wird das Motiv schwerer zu erkennen, legen sich mehr und mehr Pixel-schichten darüber.
Die Bilder treten dadurch wie aus einem Nebel des Gedächtnisses hervor, mal mehr, mal weniger deutlich. Dabei bleiben sie in ihrer Bedeutung vage, selbst wenn das Motiv deutlich zu erkennen ist. Es sind Alltagsgegenstände wie ein Telefon oder ein Paar Schuhe, deren immaterielle Bedeutung für Außenstehende verschlossen bleibt. Und doch wecken sie Assoziationen, knüpfen an eigene Erinnerungs-ketten an. Motive wie die Schuhe finden sich auch in Setos Zeichentrick-Animationen wieder. Diese zeigen kurze Szenen, voneinander getrennt durch ein dunkles Rauschen. Die Linien sind verwischt und verwackelt, die Bilder bleiben nur kurz. Nur durch ein Guckloch in einer der drei großen Pappmachee-Kugeln zu sehen, offenbaren sie sich den Ausstellungsbesucherinnen nicht auf den ersten Blick.
Allen Arbeiten gemeinsam ist das Haptische, Handgemachte, Analoge. Seto markiert in ihnen die Flüchtigkeit der Erinnerung. So wie sie sie in dem Moment der (Auf-)Zeichnung erinnert, werden die Bilder kein zweites Mal sein. Und dem, was sie tatsächlich erlebt hat, entsprechen sie vermutlich nicht. Dabei beschäftigt sich Seto nicht nur mit ihrer eigenen Erinnerung, sondern fragt viel genereller nach dem Erinnern, nach den Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ihre Kunst nimmt Betrachterinnen mit auf einen »mental time travel«, was in der Psychologie die Fähigkeit beschreibt, sowohl die Vergangenheit rekonstruieren, als auch die Zukunft imaginieren zu können.
© 2025 Yoriko Seto